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"Hinterm Tresen: Ein Experiment zwischen Menschlichkeit und Verrohung"

Wie ich lächelte, wenn mich jemand bedrohte - und warum das unser Problem ist.


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Hinterm Tresen: Was die Tankstelle über unsere Gesellschaft verrät


Berlin, 21:50 Uhr. Zehn Minuten vor Feierabend. Es ist ruhig an der Tankstelle, fast schon gespenstisch still. Nichts deutete auf einen verspäteten Feierabend hin. Dann fährt ein Motorroller vor. Der Fahrer tankt, betritt den Verkaufsraum, den Helm mit dunklem Visier auf dem Kopf. Das Gesicht bleibt verborgen. Ich bitte ihn, den Helm abzunehmen. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern aus Pflichtbewusstsein und Eigenschutz. Es ist gängige Sicherheitsmaßnahme, zumal erst zwei Wochen zuvor eine Tankstelle in der Nähe überfallen wurde.

Doch was folgt, ist keine einfache Diskussion. Es sind Beleidigungen, Drohungen, Worte wie Waffen: „Ich stech dich ab. Ich werd eh bald abgeschoben, also ist mir alles egal.“ Ich wähle die 110. Es ist ein Moment, der vieles in Frage stellt und doch genau das bestätigt, was mich überhaupt zu diesem Job gebracht hat.


Ein Selbstversuch in der Wirklichkeit

Ich habe mich bewusst für diesen Job entschieden. Ich wahr, der Überzeugung, das ich hier meiner Recherche auf die Spur helfe. Als Autor und Podcaster beschäftige ich mich mit Fantasie, doch echte Geschichten findet man nur im wahren Leben.

Ich wollte wissen:

Wie geht es den Menschen im Alltag?

Wie verändert sich unser Miteinander?

Warum spaltet sich die Gesellschaft zunehmend, im Ton, im Umgang, in der Haltung?

Man kann Interviews führen, Studien lesen, Theorien wälzen. Oder man begibt sich selbst dorthin, wo man der Gesellschaft ungefiltert begegnet, an eine Berliner Tankstelle.


Freundlich bleiben – und trotzdem verlieren?

Die ersten Tage waren ein Schock. Noch während der Einarbeitung wurde ich von Kunden angeherrscht, beschimpft oder schlicht ignoriert. Ein Fehler an der Kasse, ein verzögerter Ablauf, und schon ist die Geduld am Limit. Verständnis? Kaum. Selbst von Menschen, die selbst hart arbeiten, kommt oft Überheblichkeit statt Empathie.

Viele Kolleginnen und Kollegen schlucken das – TÄGLICH. Sie lächeln weiter, wünschen einen schönen Abend, während sie innerlich zerbrechen. Nicht jeder hat die Kraft oder Schlagfertigkeit, sich zu wehren.

Ich wollte wissen:

Was passiert, wenn man den Kunden den Spiegel vorhält?

Wenn man in gleicher Weise zurückspiegelt?

Die Antwort:

Man erntet in den meisten Fällen zumindest Respekt.

Aber das kostet, Energie, Nerven, Menschlichkeit. Und will man das? Was sagt das über uns als Gesellschaft aus?


Zwischen Aggression und Herzenswärme

Und doch:

Die Tankstelle ist nicht nur ein Ort der Eskalation. Sie ist ein Ort voller echter Begegnungen. Die alte Dame, die täglich ihre Zeitung holt, obwohl sie nicht mehr gut zu Fuß ist, immer mit einem Lächeln. Der Autotuner mit seinem Porsche, der regelmäßig Bifi für seine Hunde kauft und ein freundliches Wort übrig hat. Der Homeoffice-Nachbar, der sich mit einer Cola eine kleine Flucht gönnt. Die BSR-Mitarbeiter, die jeden Tag vorbeikommen, einer von ihnen ist nach Weihnachten nicht mehr erschienen. Er ist verstorben. Für mich war das einer der schwersten Momente. Denn diese regelmäßigen Besuche haben etwas Beruhigendes, es sagt dir, alles ist wie immer. Und dann geht einer und etwas wackelt.

Ich habe alles erlebt: Freundlichkeit. Ignoranz. Gewalt. Mitgefühl. Respektlosigkeit. Menschlichkeit.


Wer wir wirklich sind

Nach einigen Wochen kannte ich die Abläufe, das Kassensystem, die Kunden. Ich begann, kleine Experimente: Übertriebene Freundlichkeit. Spiegelung respektlosen Verhaltens. Beobachtungen.

Was mich erschütterte:

Wie viele Menschen nicht einmal mehr Bitte oder Danke sagen können, und wie sehr sie aufblühen, wenn man ihnen echtes Interesse entgegenbringt.

Auch interne Herausforderungen prägten den Alltag: Sprachbarrieren mit Kolleg:innen, schwierige Anweisungen von Vorgesetzten. Etwa die Entscheidung, den Toilettenschlüssel nicht mehr herauszugeben, aus gutem Grund. Die Toilette, eigentlich zur Werkstatt gehörend, war unzumutbar verdreckt. Und trotzdem: Beschimpfungen, Unverständnis, Bedrohungen.


Ein Plädoyer für Anerkennung

Dieser Erfahrungsbericht soll euch die Augen öffnen. Er ist eine Einladung zum Umdenken.

Ich habe in diesem Jahr zwei Gefühle besonders stark erlebt:Erstens: Wir als Gesellschaft müssen wieder zueinander finden.Zweitens: Es gibt Menschen, die können nicht einfach gehen, weil sie keine Alternativen haben, weil sie nicht mehr die Kraft haben, auszubrechen.

Ich denke an jene Männer, die irgendwann still und leise auf ihren Dachboden steigen ,und nie wieder herunterkommen. Die einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie sich für ihre „Schwäche“ entschuldigen. Was für eine Tragödie.

Deshalb mein Appell: Lasst uns Kassierer:innen, Verkäufer:innen, Kellner:innen, Pfleger:innen – allen, die tagtäglich Dienst am Menschen leisten – mit mehr Respekt, Verständnis und Würde begegnen.

Wir sind keine Einzelkämpfer. Wir sind eine Gesellschaft. Und wir brauchen einander.

Wenn Chefs nur fragen, wann wir nach Krankheit wieder einsatzbereit sind, nicht aber, wie es uns wirklich geht, dann müssen wir es anders machen. Laut, klar und gemeinsam.

Stellt euch vor, wir würden für 2 bis 7 Tage alle gemeinsam nicht zur Arbeit erscheinen. Als Zeichen, weil es reicht. So wie es einst in Indien geschah. Dann würden auch jene Mächtigen merken, dass die Stärke nicht in den einzelnen liegt, sondern in der Gemeinschaft.Also redet wieder miteinander, geht auf einander zu. Habt die Fantasie, dass wir gemeinsam stärker, fröhlicher und vor allem glücklicher sind.

Habt euch lieb.Denn echte Veränderung beginnt nicht in der Politik. Sie beginnt an der Kasse. Am Kaffeeautomaten. Im echten Leben.


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